Für den VfB sehe ich schwarz

08.05.2015

Die Bundesliga ist spannend wie nie. Drei Spieltage vor Saisonende schweben noch fünf Klubs in höchster Abstiegsgefahr. Darunter millionenschwere Traditionsvereine wie der VfB Stuttgart, Hannover 96 und der HSV. Ein Mann, der genau weiß, welchem Druck die Spieler und Verantwortlichen dieser Vereine jetzt ausgesetzt sind, ist Mirko Irion. Denn Irion ist Mentalcoach. Zu ihm kommen Profisportler und Vereine, um sich Hilfe zu holen und im Abstiegskampf die letzten Reserven zu mobilisieren. Seit Jahren arbeitet er mit Spitzensportlern wie dem ehemaligen Nationaltorwart Timo Hildebrand oder Ex-Biathletin Simone Hauswald zusammen, die er zu ihrer aktiven Zeit betreut hat.
Im Interview mit t-online.de spricht Irion über den Abstiegskampf in der Bundesliga, Psychotricks und die Probleme des VfB Stuttgart.

Herr Irion, haben Sie in den letzten Wochen einen Anruf aus Stuttgart, Hannover, Freiburg, Paderborn oder Hamburg erhalten?
Leider oder vielleicht zum Glück nicht. Aber wenn ich diese Saison für einen Verein noch etwas tun kann, das den Abstieg verhindert – warum nicht (lacht).

Wie können Sie als Mentalcoach abstiegsbedrohten Vereinen helfen?
Ich muss mir vorher die Frage stellen: Kann ich überhaupt noch etwas retten? Aber im Normalfall können kurzfristige Maßnahmen noch greifen. Denn es geht schließlich sehr knapp zu im Tabellenkeller. Es ist wichtig, dass man an der richtigen Stelle im Verein ansetzt.

Wo ist diese Stelle?
Es bringt nichts, vereinzelt mit ein paar Spielern drei Spieltage vor Saisonende mit direktem Mentaltraining ihre Leistung zu verbessern. Hier ist eine ganzheitliche Beratung – eine sogenannte Supervision gefragt. An dieser Stelle arbeite ich mit dem Trainer, dem Management und dem Vorstand daran, die Rahmenfaktoren so zu setzen, dass jeder im Team die nötige Performance abrufen kann, um den Abstieg abzuwenden. Ein Allheilmittel ist das aber auch noch nicht, ich bin ja kein Zauberer.

Welche Maßnahmen sind möglich?
Wichtig ist, dass die Mannschaft geschlossen auftritt. Sie hat Angst vor dem Abstieg und kämpft dagegen an. Die Angst liegt wie Blei in den Füßen und kann komplett lähmen. Die Aufgabe eines Mentalcoaches ist es, wieder Spielfreude zu entwickeln. Die Mannschaft muss das Ziel vor Augen haben, zu jedem Zeitpunkt 100 Prozent Leistung zu zeigen und Spaß zu haben anstatt ständig den Nichtabstieg als Ziel im Kopf zu haben.

Gibt es Techniken, Methoden oder Übungen?
Es geht darum, dass die Spieler wieder ein positives Gefühl erlangen. Dies kann der Trainer mit ihnen einstudieren. Ziel ist es, sie in eine stabilere oder positivere Gemütslage zu bringen. Das hat etwas mit Entspannung zu tun. Leider funktioniert so etwas über Nacht im Abstiegskampf nicht ganz so leicht. Da bedarf es ein bisschen Übung. Deshalb wäre es natürlich ideal, schon vorher mit den Spielern in diesem Bereich arbeiten zu können.

Was macht ein Mentaltrainer?
Wir Menschen stehen uns in der Regel selber im Weg durch unbewusste Verhaltensmuster, die wir in uns tragen. Ein Mentalcoach arbeitet nicht nur durch gewisse Übungen sondern auch durch Bewusstmachung. Wenn Vereinsvorstände sich bewusst wären, was ihre Aktionen für Wirkungen haben können, dann würden sie manche kontraproduktiven Aktionen gar nicht durchführen. Mentale Fitness gleicht keine körperlichen oder technischen Defizite aus. Aber ich kann noch fünf bis zehn Prozent Leistung rausholen.

Wie sieht die Arbeit mit den Spielern aus?
Wir analysieren die aktuelle Situation. Anschließend vermittle ich Tools zum Selbstcoaching. Der Spieler versteht in unserem Gespräch, warum es oft nicht funktioniert hat. Im nächsten Schritt lernt er aus der positiven Erfahrung die er gemacht hat. Und im letzten Schritt versteht er, wie er diesen inneren Zustand selber herbeiführen kann. Dieser Prozess ist dann nichts anderes als Training.

Welche Rolle spielt dabei die Familie oder das engste private Umfeld?
Eine große. Sie werden mit ins Coaching einbezogen wenn es notwendig ist. Das ist es immer dann, wenn Ängste geschürt werden. Wenn Gespräche stattfinden, die die Angst fokussieren. Jeder meint es ja nur gut und will unterstützen – aber man muss sich erst einmal bewusst werden, dass das auch kontraproduktiv sein kann.

Und was machen Sie dann?
Der Spieler hat Angst um seine Karriere. Womöglich hat er noch einen Berater, der Druck macht. Er hört Dinge aus der Presse, sieht widersprüchliches Verhalten in der Vereinsführung oder bei den Kollegen. Ich versuche ihn auf das Wesentliche auszurichten.

Und das ist?
Dass das alles keine Rolle mehr spielt, sobald er auf dem Platz steht. Dann muss er das tun, was er am besten kann. Und zwar so, wie es ihm im Rahmen der Vorgaben des Trainers am meisten Spaß macht.

Wie sehr helfen Psychotricks?
Um kurzfristigen Erfolg zu erzielen, können sie hilfreich sein. Aber langfristig nicht. Das Wort Psychotricks hört sich immer so magisch an. Zu Psychotricks zähle ich aber auch schon Gespräche, Hypnose, Massage, Dialoge oder Spaziergänge. Dabei sind die Tricks nichts anderes als zielgerichtete Manipulationen mit dem Ziel der Leistungs-Optimierung. Adrenalin und Druck helfen nicht!

Und Prämien?
Ich sehe es wie Hannovers neuer Trainer Michael Frontzeck: Wegen Geld rennt kein Spieler schneller. Was hilft, ist, vor der Mannschaft zu stehen und jedem einzelnen Spieler durch Gespräche daran zu erinnern, wie viel Spaß Fußballspielen machen kann. Das Gefühl, dass bei einem Abstieg “alles vorbei ist”, ist absoluter Quatsch. Die Spieler werden weder sterben noch verarmen – es geht immer weiter. Und wenn dieser Druck gelockert wird, dann läuft es meistens auch wieder besser. Etwas unglücklich finde ich aber, wenn sich zum Beispiel Michael Frontzek gegen eine Nichtabstiegsprämie ausspricht – aber dann angeblich selbst eine hat.

Wie effektiv ist die “verbale Peitsche” des Trainers?
Ich persönlich halte in den meisten Fällen nichts davon. Aber wenn man es wie Felix Magath macht, ist es erfolgreich. Magath stellt sich trotz allem fast immer vor seine Mannschaft. Für ihn gibt es ein ganz klares hierarchisches Verhältnis. Er hat einen hohen Anspruch an das Team und verlangt, dass jeder Einzelne diszipliniert und professionell agiert. Beachtet das ein Spieler nicht, schmeißt er ihn raus. So sind seine Regeln. Doch solange jeder das umsetzt, stellt er sich vor sie wie eine Wand.

Was bringen Feuerwehrmänner im Abstiegskampf?
Wenn alle Seiten des Vereins eine Schuld im letzten Trainer sehen, kann ein Feuerwehrmann etwas bewirken. Wenn ich den Trainer als Buhmann definiere, dann bringt es etwas, diesen auszutauschen. Unabhängig davon, ob er der Schuldige ist oder nicht. So verschwindet das Alibi und es kann sein, dass die Mannschaft kurzfristig erfolgreicher ist. Aber langfristig bringt es überhaupt nichts. Weil die Kommunikationsform im Verein und die Philosophie sich nicht geändert haben. Bei der nächsten Krise wird erneut ein Buhmann gesucht.

Welchen Trainer von den aktuell im Abstiegskampf befindlichen Klubs, sehen Sie am geeignetsten?
Paderborns André Breitenreiter hat derzeit den richtigen Kurs. Da stimmt auch die Ausgangslage. Er hat am wenigsten zu verlieren. Er wird von der Vereinsführung gestärkt. Der Verein scheint mir insgesamt am meisten in sich ruhend. Die Fußballer können sich auf das Wesentliche konzentrieren  – Fußballspielen.

Und wo sieht es düster aus?
Für den VfB Stuttgart sehe ich schwarz. Auch wenn ich der Meinung bin, dass der Verein alles mitbringt, um sportlich in der Bundesliga zu bestehen. Mir ist da aber viel zu viel Unruhe drin. Es folgt ein Knaller auf den anderen. Dass Hansi Müller…

…der inzwischen als Aufsichtsrat zurückgetreten ist…
…den neuen Trainer ausgeplaudert hat, war extrem ungeschickt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass einiges im Argen liegt.

Habe sie schon einmal einem Sportler oder Profiklub abgesagt?
Ja. Aber natürlich nenne ich hier keinen Namen. Aus meiner Sicht war die Situation aussichtslos. Feuerwehrmänner wurden im Abstiegskampf permanent ausgetauscht. Die Mannschaft hat nicht mehr als Team funktioniert. Ich hätte mit Teambuilding ansetzen müssen. Dazu hätte es aber einer stabilen Vereinsführung bedurft. Der Coach wusste nicht, ob er überhaupt mit einem Mentaltrainer zusammenarbeiten sollte. Ich wollte über eine langfristige Zusammenarbeit reden, ganz egal wo der Verein steht. Das wollten die Verantwortlichen nicht. Das sind Voraussetzungen, bei denen ich keine Lust habe, mich zu engagieren.

Sollte jeder Verein einen Mentalcoach haben?
Definitiv! Genauso wie die Mannschaft einen Konditionstrainer braucht, braucht das Team auch einen Mentaltrainer. Im modernen Fußball machen Kleinigkeiten den Unterschied aus. Dementsprechend professionell sollte man sich aufstellen – auf allen Ebenen.