19.122018
Christian Gentner stand kurz nach Tod des Vaters wieder auf dem Platz – Sportpsychologe Mirko Irion analysiert
Wie ist es möglich, dass Gentner drei Tage nach dem Tod seines Vaters wieder spielte?
Christian Gentner zog nur drei Tage nach dem tragischen Tod seines Vaters im VfB-Stadion wieder das Stuttgarter Trikot an, führte die Schwaben gegen Wolfsburg (0:2) als Kapitän aufs Feld. Für viele Menschen ist so eine Reaktion kaum vorstellbar. Sportpsychologe Mirko Irion erklärt im Exklusiv-Interview mit RTL, wie so etwas möglich ist und warum der VfB Stuttgart trotzdem ein Problem hat.
Anzeichen einer starken Psyche
Für einen gewöhnlichen Menschen kaum vorstellbar, aber Sportpsychologe Mirko Irion weiß: “Das kann für einen Profi-Fußballer der Weg in die Normalität sein. Ein Profi wie Gentner weiß normalerweise, wie er diesen Stress in eine positive Richtung lenkt. Das kann nicht nur funktionieren, sondern sogar die Leistung steigern.”
Dafür braucht es aber nicht nur langjähriges mentales Training, sondern auch eine starke Psyche. Die vermutet Irion auch beim erfahrenen VfB-Profi: “Im Fall Gentner ist es ein Indikator für genug Selbstvertrauen, dass er das positiv umwandeln kann. Ich traue ihm zu, dass er den Stress-Auslöser so nutzt, dass er eine höhere Leistung abrufen kann. Unterschwellig sieht man auch: Das Selbstbewusstsein und der Selbstwert sind auf jeden Fall da, sonst würde er nicht spielen.”
Was ging Gentner möglicherweise durch den Kopf?
Was aber ging Christian Gentner vor dem Spiel gegen Wolfsburg durch den Kopf? Irion kann nur Vermutungen anstellen – basierend auf seiner langjährigen Erfahrung als mentaler Coach: “Er hatte vielleicht Gedanken, dass er für seinen Vater spielen will. Oder er hat sich im Vorfeld Stärken und Qualitäten seines Vaters vor Augen geführt, die in ihm leben, für die er spielen will.”
Allerdings sind Bundesliga-Fußballer keine Maschinen – sie haben nur gelernt, die Trauer für 90 Minuten auszublenden oder umzuwandeln: “Die Trauerbewältigung dauert viel länger, das muss man separiert betrachten. Aber das ist eben der Unterschied bei einem Profisportler: Der kann sich ja nicht acht Monate abmelden, der muss ja sofort wieder funktionieren“, so Irion.
Stuttgart ohne Sportpsychologen – “großes Defizit”
Eine wichtige psychologische Rolle spielt auch, dass Christian Gentner kein Individualsportler, sondern Teil einer Mannschaft ist, die von der persönlichen Tragödie ihres Kapitäns auch in hohem Maße betroffen ist. Mirko Irion weiß, wie sich die Mannschaftskameraden am besten verhalten sollten: “Die Teamkollegen können fragen, ob er etwas braucht und ihm zeigen, dass sie für ihn da sind.”
Wichtig ist hier eine professionelle interne Verarbeitung: “Die Sache darf man nicht totschweigen. Es ist gut, wenn das am Anfang moderiert stattfindet. Mitfühlen ist gut, Mitleiden ist schlecht. Es sollte ein Raum geschaffen werden, wo man Gefühle zeigen kann. Dann aber muss man nach vorne schauen, ein Profiteam muss jedes Wochenende spielen und Leistung bringen.”
Irion ist skeptisch, ob das bei Stuttgart gelingt: Der VfB hat im Moment keinen hauptamtlichen Sportpsychologen für die Bundesliga-Mannschaft angestellt – für den Fachmann ein riesiges Manko. “Das kann man nicht Gentner, den Spielern oder einem Trainer überlassen”, prangert Irion an.